„Oh, du Scheußliche!“



"Für Vieles mag es jetzt zu spät,
für Anderes noch zu früh sein.
Die Welt riecht nach verbrannter Wurst
und nach erbroch'nem Glühwein."
- Andreas Rebers


Und so beginnt es erneut, das alljährliche Grauen der Weihnachtsmärkte. Bereits Mitte November werden große Teile deutscher Innenstädte behelfsmäßig in Schonungen verwandelt, indem unschuldige Nordmanntannen oder Blaufichten an Straßenschilder und Laternenmasten gefesselt werden. Auf den neu entstandenen ‚Lichtungen’ werden Bretterverschläge aufgestellt, wie man sie aus Schrebergärten entlang von Regionalbahnlinien im Ruhrgebiet kennt.



Um die gewünschte ‚Atmo’ zu erzeugen, werden diese Hütten großzügig mit Tannengrün und Watte betackert. Aber Watte ist Watte ist Watte ist Watte. Und kein Schnee. Niemals.
Jahr für Jahr ergibt sich ein Großteil der einheimischen Bevölkerung diesem vorfesttäglichen Moloch. Doch damit nicht genug: der Weihnachtsmarkt-Tourismus macht nicht an der deutschen Grenze Halt, sondern überwindet diese in westlicher Richtung, sodass auch gut gegelte Niederländer und Innen in Reisebusse verfrachtet und dann ihrer prächristnatalen Unschuld beraubt werden. Wie Zugvögel auf dem Weg in den Süden ziehen diese Schwärme aus Kegelclubs, Büro- und anderen Zweckgemeinschaften dann von Lübeck bis Augsburg durch diese Tristesse deutschen Einzelhandelgrauens.
Die zentrale Frage lautet: was macht die Faszination Weihnachtsmarkt aus?
Er erscheint im Grunde genommen lediglich als eine irrationale Steigerung des hemmungslosen Konsumierens zweier Dinge, nämlich jener, die man auch mit zwei zugedrückten Augen kaum als Lebensmittel bezeichnen kann und solcher Ausgeburten der Marketenderei, die nicht einmal Walter Freiwald (Gott hab' ihn selig?) auf Teleshopping-Kanälen bewerben würde. Es wäre ihm zu anrüchig.
Zunächst zu Ersterem: Der Weihnachtsmarkt definiert sich maßgeblich dadurch, dass sich dicke Menschen mit dicken Hintern in Mänteln, die die dicken Hintern der dicken Menschen noch viel dicker erscheinen lassen, aneinander vorbeizwängen und ihrer Liebe zum Kurzgebratenen und Konsum heißer Alkoholika frönen. Dabei verlegen sie ihre Fast-Food-Aktivitäten wider jeglicher Vernunft ausgerechnet und exklusiv in der kältesten aller Jahreszeiten nach draußen.



Wer eine schlechte Currywurst für vier Euro essen möchte, gehe ins Fußballstadion, aber nicht zu einer Bude, die direkt neben einem beheizten Innenstadt-Imbiss steht, in dem das Objekt der Begierde nur die Hälfte kostet.
Hinzu kommt der Eckpfeiler, das tragende Grundgerüst eines jeden Weihnachtsmarktes: der Glühwein!
Niemals wurde das Wort Wein irreführender verwendet. 
Die Vorstellung eines gütigen Gottes wird auf eine harte Probe gestellt, so man sich eine Tasse aromatisierten weinhaltigen Getränks einverleibt. Für einen geringen Aufpreis wird dieser Teufelssaft zudem mit Schnaps versehen. Ob der obligatorische ‚Schuss’ die Herbeiführung von Dysgeusien noch weiter fördert oder ob die Basis bereits irreversible Schäden herbeiführt, ist wissenschaftlich noch ungeklärt.

Die Waren, die feilgeboten werden, markieren jedoch die Klimax des Wahnsinns.
 Ein vernunftbegabter Mensch würde dieser an den anderen 340 Tagen im Jahr nicht einmal ihrer Existenz gewahr. Es gibt wahrscheinlich niemanden, der sich im Juli Schnitzereien aus dem Erzgebirge kauft. Oder noch schlimmer: deren Imitationen aus dem fernen Osten. Was mögen die Arbeiter in chinesischen Fabriken denken, während sie bei 40 Grad Celsius in einem Loch ohne Klimaanlage dreistöckige Weihnachtspyramiden bleifarben anmalen?
Und erst die Seifen! Als wäre es undenkbar das Niveau der eigenen Körperhygiene aufrecht zu halten ohne dabei Seife mit eingearbeitetem Lavendel zu benutzen, die von einer Frau mit grober Mischhaut (woher die wohl kommt?!?) in nicht konsumgerechte Monolithen gepresst wurde.
Der Weihnachtsmarkt stellt sich so gesehen aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht als ein absolutes Marketing-Phänomen dar. Konsumgüter, nach denen es absolut keinen rational begründeten Bedarf gibt und die absolut keinen Nutzen stiften, werden zu inakzeptabel hohen Preisen an gefährlich überfüllten Plätzen verkauft, die jeder rationale Mensch aus seinem Ur-Instinkt zu überleben normalerweise meidet. Und das ohne jede Form viraler Werbemaßnahmen. Irre!
Diese aus dem Blinddarm der kapitalistischen Wertschöpfungskette stammenden Produkte werden nur noch getoppt von den Menschen, die man auf den Weihnachtsmärkten antrifft. Zunächst sind die mittelalten Paare zu nennen, die nach einem weiteren anstrengenden Tag im Doppelverdienerhaushalt noch ‚unter die Leute’ kommen wollen, um ein wenig die Seele baumeln zu lassen. Doch im Gegenteil: der Stresslevel steigt spätestens bei der Parkplatzsuche ins Unermessliche und gipfelt, wenn einem Rotten von Vorstädtern, die man außerhalb der Festzeit nur im Dunstkreis von C&A-Filialen sieht auf die Füße treten.
Während Sie sich ernsthaft für die Grausamkeiten der Verkaufsstände interessiert („Guck mal, Jürgen! Durchgefärbte Kerzen aus Bio-Wachs. Handgearbeitet!“) Ihn fest mit der behandschuhten Hand hinter sich herzieht, will Er sich langsam in die Gleichgültigkeit sedieren.
Mit der Zeit entwickeln sich Spannungen, die zwar kurzfristig durch den Konsum von Gepunschtem aufgeschoben werden, aber auf so manchem Nachhauseweg zu ‚unüberwindbaren Differenzen’ führen, wie es das amerikanische Scheidungsrecht so treffend formuliert.
Die Speerspitze der Weihnachstmarktbesucher bilden jedoch die Trägerinnen blinkender Plüschgeweihe ("weil es gäckig ist"). Diese meist in der Statement-Gummistiefel-Windbreaker-Kombination  gekleideten Damen im besten Alter sind entweder Arbeitskolleginnen oder Mitglieder eines elitären Direktvertriebszirkels, der sich regelmäßig gegenseitig zu ‚Piccolöchen’ und Knabbereien auf Tupper- und Dildopartys einlädt.
 Nehmen wir exemplarisch Biggi, Bärbel und Veronika, genannt Vroni (seit der letzten Weihnachtsfeier hinter vorgehaltener Hand nur noch ‚die Nutte’).
Drei vollschlanke Damen aus Davensberg, die sich jetzt endlich einmal ‚was gönnen’ nach all der harten Arbeit in der Kreisverwaltung Coesfeld. Nachdem sie tagein, tagaus Anträge tackern und von neun bis fünf die Kaffeekassenumlage organisieren, stehen sie nun um die mit Schnee-Watte betackerte OBI-Hütte und kippen sich den Ausschuss bulgarischer Spätlese rein.

Mit flotten Sprüchen wie "Lass mal die Luft aus dem Becher!" fordern sie beim rotbäckigen Betreiber des Glühweinstandes unerlässlich mehr vom süßen Nektar des Selbstbetrugs. "Aber diesmal mit Schu-huuuuus, Werner!". Werner hat den Schuss wortwörtlich nicht gehört, berechnet aber trotzdem einen Euro mehr. Die nüchternen Mitreisenden des Regionalexpresses zurück in die westfälische Provinz werden die nun im Organismus der drei Damen nicht vorhandenen zwei Zentiliter Cointreau nicht missen.
Und über dieser Szene hängt zäh der vergorene Gestank einer Melange von zwei Wochen altem Eierpunsch, Knoblauchatem und Erbrochenem. Das sirenenhafte Lachen von Biggi, die nach dem "füüürten" Glas unanständig laut geworden ist, findet in all den dämpfenden Mänteln keinen Widerhall und ist für Beistehende dieses diabolischen Gesamtkonstrukts nur als verkümmerter anklagender Schluchzer wahrzunehmen.
Oh, du Scheußliche!

Verwendete Fremdwörter in diesem Text: 6. 
Davon Xenismen: 1.

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