Heimat

Heimat – was ist das? Es ist ein faszinierender, weil diffuser Begriff, der schwer zu fassen ist. 
Er entzieht sich einer schematischen Definition. Folgerichtig beginnt auch der Abschnitt „Definitionen“ im „Heimat“-Artikel von Wikipedia mit dem Satz: „Eine einheitliche Definition existiert nicht.“
Und doch benutzt den Begriff fast jeder Deutsche wie selbstverständlich. Es scheint einen generationen- und regionenübergreifenden Konsens über seine Bedeutung zu geben. Heimat ist ein deutscher Begriff, wie Schadenfreude, für den es kein Äquivalent im Englischen gibt. Es gibt zwar das Wort „Home“, doch das bedeutet „Zuhause“. Aber eben nicht Heimat, denn Heimat und Zuhause sind zwei unterschiedliche Dinge. Doch dazu später.

Heimat ist also das Sammelbecken einer amorphen Masse von Faktoren, die das Gefühl von Heimat ausmachen. Zu diesen Faktoren zählen familiäre Wurzeln, die Dorfgemeinschaft oder ein Stadtteil (in Köln besonders ausgeprägt als „Veedel“), das dazugehörige Vereinswesen (Sportverein, Schützenverein, freiwillige Feuerwehr), der Bäcker, der Metzger/Fleischer, der Friseur und alle anderen klassischen Gewerbetreibenden, sowie die Brauchtumspflege inklusive Lokalkolorit und Dialekt und als kleinstes und gleichzeitig größtes Element: die Kneipe.

Im Anschluss an die Auflistung stellt sich die Frage, ob all diese Faktoren vorhanden sein müssen, um eine Heimat darzustellen. Was sind notwendige, was hinreichende Bedingungen? Oder anders formuliert: gibt es einen relativen oder einen absoluten Heimatbegriff? Diese Frage ist eigentlich unmöglich zu beantworten, schließlich gibt es gerade keine allgemeingültige Definition und zu große regionale Unterschiede. Allerdings dürfte sicherlich feststehen, dass die Menschen im Zentum der Heimatbildung stehen. Ebenso Einigkeit herrscht über die identitätsstiftende und sozialisierende Dimension von Heimat.

Wie kommt der Mensch nun zu seiner Heimat? Durch Zufall. Er wird in sie hineingeboren. Oder eben nicht. Er hat nur eine Chance auf Heimat und diese wahrzunehmen liegt nicht in seiner Macht. Das ist die brutale Dimension der Heimat. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen und die Heimat vom Zuhause. Wer das Glück hat in eine Heimat hineingeboren zu werden, kann sie zwar verlieren. Doch wer nie eine Heimat hatte, wird auch nie eine haben.

Anders das Zuhause. Ein Zuhause kann man selbst kreieren. Hier dient der englische Spruch „Home is where your heart is“ als Maxime. Zuhause beschränkt sich jedoch meist auf den häuslichen, familiären Bereich, ohne die Beziehung zum umgebenden Raum und sein kennzeichnendes Soziotop. Ein Zuhause ist sozusagen der kleine Bruder der Heimat. Mathematisch ausgedrückt, könnte man sagen, dass das Zuhause gen Heimat streben kann, wie x gegen unendlich, sie aber nie erreicht. Allerdings ist ein Zuhause nicht zwangsläufig Teil der Heimat, wie man bei vielen Vertriebenen sehen kann. Diese sprechen auch nach Jahrzehnten sehnsuchtsvoll von der „alten Heimat“, selbst wenn keine Chance besteht jemals wieder dorthin zurückkehren zu können. Hier zeigt sich auf drastische und gleichzeitig beeindruckende Art und Weise die enorme, gerade auch identitätsstiftende Funktion, die Heimat ausfüllen kann.

Um das Ganze einmal beispielhaft darzustellen, folgt ein kurzer Aufriss meines Lebens. Des Lebens eines Heimatlosen.
Der Vater aus dem Sauerland, die Mutter aus Köln, geboren in Oberbayern, innerhalb des ersten Lebensjahres in ein Dorf im Münsterland gezogen und dort aufgewachsen. Die Eltern galten sehr lange als „Zugezogene“ und hatten es schwer in die Dorfgemeinschaft aufgenommen zu werden. Ich ging mit fünf Jahren in den Fußballverein und ein halbes Jahr später in die örtliche Grundschule. Die Eltern der Schulfreunde kannten sich alle untereinander, da sie schon gemeinsam dieselbe Grundschule besucht hatten, zusammen Fußball gespielt und einen Kegelklub gegründet hatten. Auch wenn ich keine Probleme hatte Freunde zu finden, im Vergleich zu den anderen hatte ich schon als Kind das Gefühl, dass irgendwas fehlte. Hinzu kam, dass wir im Schnitt jedes zweite Wochenende ein Großelternpaar besuchte, denn meine Eltern zog es in ihre Heimat. Sie wohnen mittlerweile seit 25 Jahren zur Miete im Dorf im Münsterland, obwohl mehrfach die Möglichkeit bestand ein Haus zu bauen. Das Münsterland war eben nicht Heimat. Es ist mein Zuhause, denn dort leben meine Eltern. Ich würde es mit abgewandelten Worten von AnnenMayKantereit beschreiben: „Ich hab keine Heimat, ich hab nur euch, ihr seid Zuhause fürimmer und mich.“ Das ist schön. Allerdings spüre in mir oft eine große Sehnsucht nach Heimat, gerade wenn ich Freunde in ihrer Heimat besuche. Es ist der alte Effekt, dass immer das die größte Faszination ausübt, was man nicht haben kann. Daher stammen wohl auch meine starke Identifikation mit meinem Studienort Münster im Großen und die frequentierten Besuche meiner Stammkneipe im Kleinen. Trotzdem steht fest: so wohl ich mich in Münster fühle, Heimat wird es nie sein.

Doch wie wichtig ist Heimat heutzutage überhaupt noch? Wie groß ist das generelle aber auch individuelle Bedürfnis nach Heimat in einer Zeit der Globalisierung, der Gentrifizierung, der Auslandsemester und der Weltbürger? Das Fernweh packt die Meisten. Kaum ein Student, der nicht einen Teil seines Studiums im Ausland verbringt. Jobangebote werden deutschlandweit, europaweit oder sogar global gemacht. Allerdings birgt diese Volatilität der Wohnorte - nach dem Studium drei Jahre New York, gefolgt von zwei Jahren Singapur und vier Jahren Kapstadt – die Gefahr, dass man zum Rastlosen, ewig Getriebenen wird. Plötzlich ist man dann erst Mitte Dreißig und neben das Karrierestreben tritt oft die langfristige Familien- und Lebensplanung. Viele zieht es dann zurück in die Heimat. Wer diese bis dahin gänzlich aufgegeben hat und jeglichen Kontakt abgebrochen hat, für den gibt es keine Möglichkeit den Reset-Button zu drücken, denn es gibt keinen Ausgangspunkt mehr, auf den man zurückgesetzt werden kann.

Vielleicht ist das nur Übertreibung. Schließlich ist Heimat definitiv kein Allheilmittel für jede Krise. Das sieht man daran, dass sie im allgemeinen gesellschaftlichen Klima, das glaubt die Internationalisierung habe ihren Zenit überschritten, als Patentlösung aller angeblichen Probleme ins Feld geführt. Gegen die EU. Gegen die Flüchtlinge. Gegen Mexiko. In der gesamten westlichen Welt, die nach dem Ende des kalten Krieges immer stärker zusammengerückt ist, finden sich nationalistische Bewegungen von nicht unbeträchtlichem Gewicht. Trump in Amerika, die AfD in Deutschland, Ukip in England, Front National in Frankreich, PiS in Polen. Ebenso sind rechtskonservative Parteien in den skandinavischen Ländern, den Niederlanden, Belgien, Ungarn und Griechenland in den Parlamenten angekommen. Die Rückkehr ins Kleinod Nationalstaat ist en vogue. Meist sind die Beweggründe dafür allerdings Dummheit, Angst und Radikalisierung. In diesem Kontext wird der Heimatbegriff nationalistisch aufgeladen. Das ist keine gesunde Entwicklung. Niemand kann ernsthaft davon ausgehen, dass die drängenden Probleme dieser Zeit durch Abschottung und Eigenbrötlerei gelöst werden können. Das wäre so, wie wenn man ein Kind auffordert sich zu verstecken. Doch anstatt unters Bett zu kriechen, hält es sich die Hände vor die Augen, weil es denkt, dass es selbst unsichtbar wird, wenn es den anderen nicht sieht.
Nun aber zurück zur Heimat. In Bezug auf ihre Wertschätzung gilt mal wieder der kluge Spruch des alten Paracelsus: Die Dosis macht das Gift.

Ob und wenn ja in welchem Ausmaß Heimat noch eine Bedeutung hat, muss jeder für sich selbst entscheiden. Doch sollten die Glücklichen, denen qua Geburt eine Heimat beschieden ist, diese nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Was man mit Anfang Zwanzig als provinziell und entwicklungshemmend disqualifziert, kann sich im Nachhinein als Sehnsuchtsort entpuppen. Wer dann alle Brücken hinter sich abgebrochen hat, der merkt: eine zweite Chance auf Heimat gibt es nicht.


LW

Share this:

, , , , ,

Eure Kommentare

0 Kommentare:

Post a Comment