Einige Gedanken zu dem Brexit
Nach dem Aufstehen geht der erste Blick aufs Handydisplay. Was schreiben die Zeitungen - stay or leave? Die ersten Zeilen, die ich lese versetzen mich in einen Zustand wie am 4. Juli 2006, als Fabio Grosso in der 119. Minute den Traum vom WM-Sieg im eigenen Land mit einem Schuss ins lange Eck zerplatzen lässt.
Auf dem Weg zur Arbeit drängen sich mir erste Fragen auf: waren wir als Europäer nicht, trotz aller Uneinigkeit über die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten, stromschluckender Staubsauger und dem Umgang mit Flüchtlingen aus kriesengebeutelten Nationen, schon auf dem Weg der Annäherung? Haben uns nicht die beiden Unionskatalysatoren Easyjet und Ryanair zuverlässig in den Partymetropolen des alten Kontinents zusammengebracht? Im grenzenlosen Europa feierte die Jugend freudentrunken mit arbeitslosen Spaniern, armen Griechen und besoffenen Briten in Berliner Clubs und trank tschechisches Bier. Mal ein Jahr in Portugal leben, ein Semester in London studieren, ein Praktikum in Paris machen? Kein Problem, solange wir alle mit den gleichen Rechten ausgestattet waren, die uns Freizügigkeit (nein, nicht das mit den wehenden Pimmeln) und offene Grenzen garantierten. Welche Nationalität in den Reisepass gedruckt war, war für uns Europäer zumindest innerhalb der Gemeinschaft egal, solange nur das Sternenbanner vorne auf dem Umschlag prangerte.
Wer als Europäer die zuvor genannten Privilegien der EU-Staatsbürgerschaft bisher genossen hat, sollte sich in den letzten Wochen zumindest ein paar Gedanken gemacht haben, welche Auswirkung ein Brexit-Referendum haben könnte. Damit, dass sich knapp 52% der Briten tatsächlich für einen Austritt aus der EU entscheiden würden hat wohl trotzdem niemand ernsthaft gerechnet. Insgeheim haben wir doch alle gehofft, dass sich Populisten wie Nigel Farage und Boris Johnson mit ihren polemischen Aussagen um Kopf und Kragen reden und in ihren Widersprüchen verwickeln würden. Als aufgeklärte Europäer haben wir gehofft, dass diese albern wirkenden Karikaturen eines britischen Klischees im Orcus der Bedeutungslosigkeit verschwinden würden und zumindest im Fall von Mr Johnson höchstens in englischen Reality TV-Formaten als umstrittener Kandidat wieder auftauchen könnten.
Leider zersetzte sich diese Hoffnung in der bitteren Erkenntnis, dass anscheinend inmitten von europäischen Hochkulturen die bereits angesprochene Aufklärung noch nicht weit fortgeschritten ist. Nebenbei bemerkt, ist dies ein Vorwurf, der von eben dieser “Hochkultur” gerne der arabischen Welt gemacht wird - just sayin’.
Nun haben sich die Briten gegen Europa entschieden. Wie realistisch lässt eine solche Entscheidung nun einen Präsidenten Donald Trump 2016 oder Obergauleiter Gauland 2017 wirken? Noch echauffieren wir uns über die Nachrichten und Bilder aus den USA oder die Wahlergebnisse in ost-deutschen Landtagen. Der Brexit zeigt jedoch abermals, dass wir trotz unserer Geschichte sehr wahrscheinlich wieder einen rechten Weg aus einem vereinten Europa heraus einschlagen könnten. Wie konnten die Deutschen auf jemanden wie Hitler reinfallen? Wie konnten 51,9% der Briten sich aus offenkundig widerlegbaren Gründen für einen Austritt aus der EU entscheiden? Die Antwort auf diese Fragen erklärt wahrscheinlich auch das Phänomen AfD.
Bei der Geburt getrennt?
Als homo digitalis, der sich seine Nachrichten und Meinungen aus unterschiedlichen Quellen und Blickwinkeln auf sein Smartphone holt, vergisst man schnell, dass sich die meisten Leute höchstens lustige Memes und Halbwahrheiten in Form von 140 Zeichen aus dem Internet ziehen. Das macht es den Demagogen in hitzigen Debatten so einfach den Fortschritt für ihre eigenen egoistischen und selbstdarstellerischen Zwecke zu bremsen. Ihre Botschaft passt in einen Satz (der wiederum in großen weißen Buchstaben auf die Seite eines roten Busses passt). Mit xenophoben Tweets und Posts und unsozialem Verhalten gegenüber einer größeren Gemeinschaft bekommt man eben mehr Shares und Likes, als mit dem moralischen Zeigefinger. Der Algorithmus unserer Informationsquellen Google, Facebook und Co. liefert uns bedarfsgerecht was wir lesen und sehen wollen. Es wundert nicht, dass eine ganze Bevölkerungsgruppe den rechten Populisten in sozialen Netzwerken folgt, wenn ihre letzten Google-Suchanfragen “Kanackenklatschen” oder “wie viel Spiritus kann ich trinken bis ich blind werde” waren. Anders als das Europa von morgen ist die Dummheit eben grenzenlos.
Vor einigen Tagen sagte mir ein Freund, der gerade von einem Besuch bei seinen Eltern in der englischen Provinz zurück nach Berlin kam, er habe einfach keine Zeit mehr für ignorante und dumme Menschen. Auch wenn er diese Aussage in Bezug auf die mit Nachbarn geführte Brexit-Debatte gemacht hatte, sprach er mir voll aus der Seele. Nichts ist anstrengender als mit dem typischen BILD-Leser über politische Themen zu reden, wenn dein Gegenüber jemand ist, der sich schon nach dem Lesen einer Überschrift eine irreversible Meinung gebildet hat. Keiner hat Zeit und Lust solche Menschen mühsam mit Argumenten davon zu überzeugen auch eine andere Meinung zuzulassen, oder zumindest das gelesene kritisch zu hinterfragen. You never get a second chance to make a first impression. Dieser Spruch gilt auch für Informationen die etwas einfältigeren Personen zugetragen werden. Also verbringt man seine Zeit lieber mit etwas anregendem, anstatt bei solchen Leuten Aufklärungsarbeit zu leisten. Ohnehin heisst es ja auch: You can’t argue with stupid. Also lass es? Bis zuletzt hatte ich die Hoffnung, dass sich schon jemand anderes dieser Aufgabe annehmen wird und zum Beispiel in der Causa Brexit sich die Mühe macht die Europagegner von den Vorteilen eines Verbleibs in der EU zu überzeugen. Eine ebenso dumme und ignorante Annahme, wie sich herausstellte.
Jetzt stehen wir vor einem Scherbenhaufen, dessen Ausmaß sich nicht beziffern lässt. Ob nun am Ende das britische Parlament sich analog zu dem Referendum dazu entscheiden wird einen Austritt aus der EU beizustimmen, wird sich zeigen. Welche Kosten für die Wirtschaft, das Volk und Europa entstehen werden lässt sich wohl nie wirklich quantifizieren. Sicher ist, dass zumindest jetzt schon kein sanfter Flügel mehr, der über Großbritannien weilt. Schottland und Nordirland haben mehrheitlich für einen Verbleib votiert (was im Fall der Schotten daran liegen könnte, dass sich die Bevölkerung derzeit mehr mit Politik als mit Fußball auseinander setzt). England und Wales sind zumindest gespalten. Sicher ist auch, dass allein die Debatte sowie die unzähligen Gutachten und Hypothesen zum EU-Austritt bisher schon einen mehrstelligen Millionenbetrag gekostet haben.
Als Deutsche haben wir mit der Erkenntnis, die uns das Brexit-Referendum nun gebracht hat die einmalige und letzte Chance unser Land vor kollektiv dummen Entscheidungen zu schützen. Bis zur Bundestagswahl im September 2017 wählen noch sechs Bundesländer ihren Landtag. Lasst uns gemeinsam daran arbeiten, dass der nationalistische und fremdenfeindliche Trend in Europa und der Welt zumindest in unserem Land nicht wieder Teil der Politik wird. Wir sollten nicht auf Vernunft und Aufklärung vertrauen, denn die versagt im On-Demand Zeitalter der grenzenlosen Dummheit regelmäßig.
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