Die dunkle Zeit

Für den folgenden Text habe ich eine Reise in eine Zeit unternommen, in der die Welt der eigenen Anschauung nach noch sehr klein war und die größten Probleme die Kinder aus der 4b waren, die in der Pause den Fußball geklaut haben oder ein stark wackelnder Backenzahn. Eine Zeit, die zwar von Naivität und Sorglosigkeit geprägt war, in der aber über ein Thema bereits mit heiligem Ernst debattiert wurde: Fußball.
Bereits in dieser Zeit wurden die Weichen für ein ganzes Fan-Leben gestellt. Ein Leben das viel Freude bringen sollte und noch mehr Leid. 
Dieser Text beschreibt meine fußballerische Sozialisation.

Ich wurde im Mai 1991 geboren. Das heißt, ich bin zu einer Zeit mit dem Fußball in Berührung gekommen, die ich die „DUNKLE ZEIT des deutschen Fußballs“ nenne. Sie beschreibt den Zeitraum post-1996, aber prä-2006. Nichts ging. Ich war zu jung, um mich an den EM-Sieg 1996 zu erinnern, das letzte Aufbäumen jener schnauzbarttragendenden Weltmeister-Generation von 1990. Die WM 1990 lag gar vor meiner Geburt.
Meine ersten Turnier-Erinnerungen verbinde ich mit der WM 1998. Dabei denke ich besonders an zwei Spiele, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Zum einen das deutsche Vorrundenspiel gegen Jugoslawien, in dem sich das Altherrenballet Nationalmannschaft mit einem zur Halbzeit eingewechselten Lothar Matthäus zu einem 2:2 Unentschieden mühte. Mit einem Bundestrainer Berti Vogts, der den Esprit eines Opel Kadett Kombi versprühte. Die Zusammenfassung des Spiels beendet Johannes B. Kerner mit folgenden Worten: „Das also wars dann. Deutschland-Jugoslawien 2:2. Dieses Spiel hat Spuren hinterlassen. Dieses Spiel gibt Anlass zum Nachdenken. Dieses Spiel kann nicht zufriedenstellen. Und eine erste Halbzeit wie heute darf bei dieser Fußball-Weltmeisterschaft nicht mehr passieren.“ 
Andererseits erinnere ich mich, wie ich meine Eltern angebettelt habe länger wachbleiben zu dürfen, um das Halbfinale zwischen den Niederlanden und Brasilien zu sehen, das 5:3 nach Elfmeterschießen endete. Was für ein Spiel! Und was für ein Kontrast! Auf der einen Seite alte, kopfschüttelnde Männer mit Schnäuzern. Auf der anderen Seite pure Spielfreude und Kreativität. Gerade dieser direkte Vergleich der so unterschiedlichen Welten ließ mein kleines deutsches Fußballherz verzweifeln. Und Gerhard Delling und Günter Netzer machten mit ihren missmutigen Kommentare alles noch viel schlimmer. So etwas wie eine ironische Distanz konnte ich mit sieben Jahren noch nicht entwickeln. Es war zum Heulen.  

Ebenfalls zum Heulen: Gerhard Dellings Frisur. Oder Krawatte. Oder Sakko.


Die Europameisterschaften 2000 und 2004 waren nicht besser. Nach schleppender Qualifikaton gegen Gigantenländer wie Moldawien oder Färoer ereilte die deutsche Mannschaft das Aus bereits in der Vorrunde. Im Zusammenhang mit der EM 2000 bleiben lediglich das Sakko von Uli Stieleke bei seiner Vorstellung zwei Jahre zuvor und die drei Tore von Sergio Conceicao im Spiel gegen Portugal im Gedächtnis. 

Ein Gesamtkunstwerk.


Mit der EM 2004 verbinde ich den Namen Maris Verpakovskis, vor dem ganz Deutschland Angst (sic!) hatte. Das Gruppenspiel gegen die Letten endete nach 90 ernüchternden Minuten mit 0:0. Der lettische Wunderstürmer verschwand nach seiner Station bei Dinamo Kiew wieder in der Versenkung. Immerhin wurde Bastian Schweinsteiger zur Halbzeit eingewechselt. Im abschließenden Gruppenspiel gegen Tschechien besiegelte Marek Heinz das deutsche Schicksal per Freistoß. Jener Heinz, der nach der EM zu Borussia Mönchengladbach wechselte, ein Verein, der zu dieser Zeit das Bundesliga-Äquivalent der Nationalmannschaft war: schlechter Fußball ohne Strukur. Unnötig zu sagen, dass Heinz bei der Borussia absolut keine Rolle spielte.
Zur Taktik nur soviel: während Italien eine moderne und vor allem schöne Innenverteidigung aus Alessandro Nesta und Paolo Maldini bildete, spielte Deutschland auch im neuen Jahrtausend mit dem 40-jährigen Lothar Matthäus als Libero.


Stil ist Schicksal.


Dem aufmerksamen Leser mag aufgefallen sein, dass ich in der Chronologie der Turniere eines ausgelassen habe, nämlich die WM 2002 in Japan und Südkorea. Dieses Turnier hat aus deutscher Sicht einen derart anachronistischen Charakter, dass es eine Sonderbehandlung verdient. In der Qualfikation reihte sich Tiefpunkt an Tiefpunkt. Der tiefste Punkt wurde auf Island erreicht, als die berühmte Weißbier-Wutrede einer gewissen Tante Käthe und einem bajuwarischen Grüßaugust bundesweiten Ruhm bescherte. Allein Michael Ballacks pure Willenskraft in den Play-Offs gegen die Ukraine sicherte Deutschlands Teilnahme am Turnier in Fernost. Die Vorzeichen waren also dem Zeitgeist folgend auf Misserfolg gestellt. Doch es sollte anders kommen.
Die WM 2002 endete für die Nationalmannschaft mit einer Finalteilnahme. Jedoch wusste niemand wie es dazu kommen konnte. Noch heute erscheint dies auf den ersten Blick als eines der großen Mysterien der Nachkriegsgeschichte. Bei genauerem Hinschauen löst sich die Mysteriumswolke jedoch in die Namen folgender Länder auf: Saudi-Arabien, Irland, Kamerun, Paraguay, USA, Südkorea, Brasilien. Niemals zuvor in der Geschichte des Fußballs und niemals wieder wird es einen derart einfachen Weg in das Finale eines großen Turniers geben. Ach ja, und es gab da noch einen sogenannten „Titan“. 
Immerhin sorgte die Berichterstattung zur WM 2002 für eines der absoluten Highlights der Sportposter-Kunst in Form eines Bildes von Carsten Jancker in der von mir damals hochverehrten BRAVO Sport. 

Vertonen Sie dieses Bild. Es lohnt sich.


Einem heute 12-Jährigen von dieser Zeit zu erzählen und im versuchen klarzumachen, dass das heutige Niveau der Nationalmannschaft nicht selbstverständlich ist, gleicht einer herkuläischen Aufgabe. Im besten Fall erntet man Blicke der Marke „Opa erzählt wieder vom Krieg“. Und das mit 24. Von der Einbürgerung des „Brasilianers“ Paolo Rink traue ich mich dann gar nicht mehr zu erzählen.

Im Vereinsfußball lief es nicht besser. Die Europapokalsiege von Schalke und Dortmund im Jahr 1997 bekam ich genau wie die Nationalmannschaftserfolge der 90er nicht wirklich mit. Der Champions League-Sieg der Bayern 2001 wurde nicht mit großem Fußball, sondern mit „deutschen Tugenden“ in Verbindung gebracht. Exemplarisch dafür stand Stefan Effenberg, der es als „Leitwolf“ einfach „mehr wollte“ als die anderen. Auch Thomas Linke, Michael Tarnat und Jens Jeremies standen nicht für gehobenes Spiel. Einzig Mehmet Scholl hatte Popstar-Potential. Aber der war ständig verletzt. Spätestens nach diesem Erfolg versank der deutsche Vereinsfußball in der internationalen Bedeutungslosigkeit, denn Leverkusen gilt nicht. Zwischen 2001 und 2006 hat einzig Michael Ballack den leblosen Körper des deutschen Fußballs durch das regelmäßige Erzielen von Kopfballtoren nach Willy Sagnol-Halbfeldflanken künstlich beatmet. Dafür bin ich ihm bis heute dankbar, trotz seines in sogenannten „Expertenzirkeln“ miserablen Leumunds. 

Der Heilsbringer, der Messias, die Wade der Nation.

Ein Ausweg aus der Misere war absolut nicht in Sicht. Woche für Woche wurde zunächst auf ran, später in der Sportschau ein Fußball gezeigt, der international nicht konkurrenzfähig war. Dies wurde in regelmäßigen Abständen bei Champions League-Übertragungen vorgeführt, bei denen es verdiente Heimniederlagen der Bayern gegen Olympique Lyon gab oder Leverkusen gegen Newcastle United unterging. Garniert wurde das Trauerspiel mit Marcel Reifs leidender Stimme. Spätestens ab dem Viertelfinale fand der Europapokal ohne deutsche Beteiligung statt. Dafür aber nahm das spielerische Niveau zu und hinterließ den deutschen Fan nur noch verzweifelter als vorher, nun da er sah was mit zeitgemäßer Taktik und Technik möglich war. 

Ende des vergangenen Jahrtausends war Manchester United und die italienischen Top-Klubs das Maß der Dinge. Aber die prägende Mannschaft meiner Jugend waren „die Galaktischen“ Real Madrids.




Die Galaktischen. 

Ein Kollektiv der Weltklasse. In weißen Trikots. Ohne Sponsor. Eine Mannschaft, die sich zu schade für einen Befreiungsschlag war. Gespickt mit Spielern wie Fernando Hierro, Roberto Carlos, Luis Figo, Raul, Ronaldo und ZINEDINE ZIDANE. Ich bin bis heute der Meinung, dass Zinedine Zidane nicht menschlicher Natur sein kann. Er war einfach zu gut. So gut, dass es eine 90-minütige Dokumentation eines ganz normalen Liga-Spiels über ihn gibt. Das Spiel schien für den Gegner aus meiner Sicht und der der Moderatoren bereits vor dem Anpfiff verloren. Dieser Mann löste Erfurcht nicht nur bei seinen Gegenspielern, sondern auch bei allen Zuschauern, ob im Stadion oder am Fernseher. Andere Spieler mögen mehr Tore geschossen oder vorbereitet haben, aber die Eleganz Zinedine Zidanes, die totale Kontrolle über Zeit und Raum auf dem Fußballfeld, bleibt unereicht. 

Mit dem Wechsel Ronaldinhos zum FC Barcelona im Sommer 2003 begann dann langsam der Machtwechsel im spanischen und gleichzeitig im Weltfußball. Die italienische Serie A versank im Sumpf der Spielmanipulation.

Und dann kam die WM 2006. Nichts hatte im Vorfeld darauf hingedeutet, dass sich die Dinge ändern würden. Zumindest aus der Sicht eines jungen Fans. Im März hatte Deutschland noch 1:4 in Italien verloren. Aber ab dem Juni 2006 war der deutsche Fußball wieder ernstzunehmen. Auch spielerisch musste sich der Fan nicht mehr schämen. Eine darüber hinausgehende Bedeutung der WM 2006 verbietet sich, gerade auch unter dem Einfluss der Enhüllungen in letzter Zeit. Das wird durch die Vorgänge des letzten halben Jahres sehr deutlich. Aber fußballerisch war es  zweifellos der Wendepunkt, auch wenn das Fundament durch die Reformierung der Jugendförderung des DFB bereits 2000 initiiert wurde. 

Dieser Wandel wurde auf Vereinsebene ein Jahr später durch die Verpflichtung von Franck Ribery und Luca Toni durch die Bayern fortgesetzt. Ich war zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt, nicht mehr so naiv und kurzsichtig wie ein paar Jahre zuvor, aber trotzdem froh, dass die „dunkle Zeit“ ein Ende hatte. Den bleibenden Eindruck den diese trotzdem bis heute auf mich hat, kann man schnell sehen, wenn man aktuell an die Wand über meinem Bett schaut. Dort hängen in Erlöserpose: Ryan Giggs und Zinedine Zidane.





LW

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