Wullewupp Kartoffelsupp
Nachtisch oder Dessert, wie es die feinen Leute nennen, gibt es bei meiner Familie äußerst selten
nach dem Mittagessen. Von den meisten münsterländer Familien, besonders auf Höfen, würde dies als Affront gegen die althergebrachten Tischsitten aufgefasst werden. Bei uns jedoch war Nachtisch die Ausnahme, die lediglich nach Suppen oder Eintöpfen gegessen wurde.
Es war mir ein besonderes Vergnügen aus der Schule zu kommen und bereits im Hausflur, während
ich mich meiner Schuhe und des Tonisters entledigte, zu erahnen, was meine Mutter gekocht hatte.
Mit der Zeit beeindruckte ich diese mit meiner Trefferquote.
Roch es nach Tomaten-, Linsen-, Spargel- oder Gulaschsuppe, stellte sich mir sofort die Frage, welcher Nachtisch der jeweiligen Suppe folgen würde. Wenn ich Glück hatte, gab es Vanille- oder Schokoladenpudding, vielleicht Milchreis mit Zimt und Zucker. Wenn ich Pech hatte, gab es Johannisbeerpudding aus dem selbstgemachten Johannisbeersaft meines Vaters. Für die empfindliche Zunge eines Adoleszenten war dieser einach nicht süß genung. Dieser wurde für mich als jungen Heranwachsenden nur mithilfe einer obszön zu nennenden Menge Schlagsahne zu einem
akzeptablen Genuss. Die seltsame Affinität meines Vaters zum Johannisbeerstrauch werde ich wohl
nie nachvollziehen können.
Jedenfalls entstand in mir jedesmal ein zwiespältiges Gefühl, wenn es nach Suppe roch. Denn die
meisten Suppen waren geschmacklich nicht unbedingt sexy. Aber schließlich gab es danach Nachtisch. Allerdings enthielt mir meine Mutter den Nachtisch so lange vor, bis ich eine in ihren Augen akzeptable Menge an Suppe gegessen hatte. Ansonsten, so argumentierte sie, hätte ich nach einer Stunde wieder Hunger, würde dann Chips oder Ähnliches essen und dafür würde sie nicht jeden Mittag kochen.
Den Kern dieser Problematik stellte jedoch die Kartoffelsuppe dar. Dickflüssig, ocker und einfach
nicht lecker. Ich bin der festen Ansicht, dass Sellerie nicht für den menschlichen Verzehr geeignet ist, auch nicht in Kartoffelsuppe. Aber immerhin hatte diese eine Wursteinlage. Um den Geschmack der Suppe so weit wie möglich zu neutralisieren, versuchte ich taktisch klug vorzugehen, indem ich
jeden Löffel Suppe mit einem Stück Wurst zu kombinieren suchte. Dafür reichte allerdings die
Anzahl der Wurststückchen nicht aus, sodass ich das letzte Drittel des Tellers gänzlich ohne Wurst in mich hineinquälen musste. Aus der Suppentasse wurde gefühlt ein olympisches
Schwimmbecken. Nur der Gedanke an den Nachtisch ließ mich tapfer weiteressen. Sorgen und
Nöte eines Pubertierenden.
Ich wagte nicht meine wahren Ansichten über die Kartoffelsuppe zu offenbaren, schließlich bot sie
eine der wenigen Gelegenheiten auf einen Nachtisch. Daher wollte ich auch nicht, dass die Kartoffelsuppe gänzlich vom Speiseplan verschwindet. Auch schien der Rest meiner Familie sie gerne zu mögen, denn es gab sie regelmäßig. Niemand beschwerte sich. Und so aß ich lange Jahre brav meinen Teller Kartoffelsuppe.
Eines Mittags, ich ging mindestens in die 11. Klasse, kam ich schlecht gelaunt aus der Schule.
Ausnahmsweise saß die gesamte Familie am Mittagstisch. Und es nahte die Kartoffelsuppe, was
meine Laune nicht unbedingt hob. Im Unterschied zu den Jahren zuvor konnte mich diesmal nicht einmal die Aussicht auf Nachtisch beschwichtigen. Wahrscheinlich gab es Johannisbeerpudding. Ich teilte meiner Mutter mit, dass ihre Kartoffelsuppe grauenhaft schmeckte und ich sie nur im Hinblick
auf den Nachtisch klaglos über mich hatte ergehen lassen.
Als Reaktion meiner Mutter erwartete ich einen Monolog darüber, dass ich immer nur kritisierte, sie es sowieso nie allen recht machen könne und dass sie sich soviel Mühe und Gedanken mache, um abwechslungsreich zu kochen.
Dazu hatte sie jedoch keine Gelegenheit, da mir unerwartet meine Schwester zur Seite sprang. Ich
wähnte sie bis dahin auf dem Spitzenplatz der Liste der Kartoffelsuppenliebhaber in unserer Familie. Nun pflichtete sie mir bei. Auch sie habe bisher nur aufgrund des Nachtischs anstandslos ihre Portion Kartoffelsuppe gegessen.
Nun war es an meinem Vater etwas zur Situation beizutragen. In der ihm typischen Art und Weise
hob er die gesamte Diskussion auf eine neue Ebene. Nicht nur, dass ihm die Kartoffelsuppe immer schon zu fad gewesen sei, nein, Suppen allgemein erachte er nicht als vollwertiges Mittagessen und überhaupt habe er seine Kartoffelsuppe nur klaglos gegessen, weil er glaubte meiner Mutter damit einen Gefallen zu tun. Wie selbstlos und edel von ihm!
Ein kurzer Moment der Stille.
Zu dritt blickten wir gespannt auf meine Mutter. Doch zu unserer
großen Überraschung erklärte sie, dass sie selbst Kartoffelsuppe ebenfalls nicht gerne esse und sie diese lediglich regelmäßig koche, um ihrer Familie eine Freude zu machen. Alle begannen erleichtert zu lachen, stellten ihre halbvollen Teller weg und widmeten sich umgehend dem Nachtisch. Die Kartoffelsuppe wurde vom Speiseplan der Familie gestrichen und eine nachhaltige negative Entwicklung auf die Frequenz von Nachtisch konnte ich trotzdem nicht feststellen. Das Problem war beseitigt. Und so verschwand die Kartoffelsuppe aus meinem Leben.
LW
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